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Rezension

Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard legt eine monumentale "Globalgeschichte der europäischen Expansion" vor

Wulf Rüskamp
  • Mi, 27. April 2016
    Literatur & Vorträge

SACHBUCH: Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard legt eine monumentale "Globalgeschichte der europäischen Expansion" vor.

Historisches Schiff: Nachbau der Halve... vor dem späteren New York  eindrang.   | Foto: dpa
Historisches Schiff: Nachbau der Halve Maen (Halber Mond) der holländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie, mit welcher der Brite Henry Hudson 1609 in die Bucht vor dem späteren New York eindrang. Foto: dpa
Als Vasco da Gama 1497 zu seiner Reise um das Kap der Hoffnung aufbrach, war das zwar eine Fahrt durch unbekannte Meere, aber nicht zu einem unbekannten Ziel. Es ging nicht um die Entdeckung Südasiens, auch wenn dieses Stichwortgern in einschlägigen Handbüchern fällt, sondern um eine neue Handelsroute. Bislang war das Gewürzgeschäft in der Hand Venedigs, das die Ware aus Indien über Ägypten bezog. Dass die Portugiesen mit ihrem Vorstoß ein eingespieltes System störten, erfuhren Vasco da Gamas Leute sofort. Als sie erstmals in Calicut an Indiens Westküste an Land gingen, trafen sie auf zwei Tunesier, die sie in fließendem Spanisch fragten, was sie hier wollten.

Die muslimischen Zwischenhändler hatten den Braten schnell gerochen: Da waren neue Konkurrenten eines Geschäfts angekommen, das bis dahin fest in ihrer Hand war. Sie denunzierten die Portugiesen beim indischen Herrscher als "Räuber". In einem arabischen Manuskript aus der damaligen Zeit heißt es: "Ihre Augen waren blau wie bei Wüstengespenstern, sie urinierten wie Hunde und brachten mit Gewalt reine Menschen von ihrer Religion ab, erfahren in Schifffahrt, Aufruhr und Betrug."

Marktanteile – das war der entscheidende Antrieb für die europäischen Seefahrer und deren Finanziers, neben christlicher Mission. In Südostasien führt das dazu, dass niederländische Kaufleute mit ihren Schiffen das größte Geschäft mit Transporten zwischen Indien und China machen. Der Staat schaltet sich erst ein, wenn es um Herrschaft, um Besitzrechte, auch um Bodenschätze wie Gold und Silber geht. Dann werden aus Handelsstützpunkten sukzessive Siedlungsräume und Kolonien, weil es sich, wenn nicht für den Heimatstaat, so doch für die privaten Investoren lohnt.

Die Europäer sind freilich zunächst in der Minderzahl: Ihre Herrschaft ist auf Kollaborateure angewiesen, auf Verträge mit einheimischen Fürsten – bis diese finanziell oder militärisch in Abhängigkeit geraten. Aber auch dahinter steht der Gedanke an gute Geschäfte, an Absatzmärkte oder Lieferanten von Rohstoffen oder Agrarprodukten, Textilien oder Porzellan.

Wolfgang Reinhard, der von 1990 bis 2002 an der Universität Freiburg Neuere Geschichte gelehrt hat, hat sein zum gleichen Thema vor gut zehn Jahren abgeschlossenes vierbändiges Werk überarbeitet und legt eine monumental zu nennende Globalgeschichte der europäischen Expansion vor. Sie ist über weite Strecken eine Geschichte der vier Erdteile Asien, Amerika, Afrika sowie Australien und Ozeanien.

Der Umfang des Buches mag abschrecken. Aber seine klare Gliederung, vor allem Reinhards präzise, aber sich so gut wie nie in Fachtermini verlierende Sprache machen die Lektüre zu einem Genuss, zumal sich erzählende Darstellung und differenzierende Analyse abwechseln. Die Kapitel zur Wirtschaftsgeschichte nehmen breiten Raum ein: Nicht immer leicht zu lesen, führen sie klar vor Augen, um was es den Europäer bei ihren "Entdeckungen", Raubzügen, Eroberungen und Besiedlungen ging.

Manchen ist es gewiss schon anstößig genug, dass ein Europäer sich auf dieses Thema einlässt: Was kann da anderes herumkommen als eine eurozentristische Sicht auf die Kolonialgeschichte, in der die Perspektive der Opfer kaum eine Rolle spielt? An manchen deutschen Universitäten, extremer noch in den USA und in Großbritannien tummelt sich eine Heerschar von Wissenschaftlern, die sich der "Critical Whiteness" verschrieben haben und allenthalben antikoloniale Reflexe an derartigen Weltgeschichten ausreagieren. Reinhard kennt die Diskussion sehr gut. Solcher Empörungshaltung und Moralbeflissenheit ("postkoloniale Zerknirschung" nennt er das) begegnet er mit großer Gelassenheit, fast schon spielerisch im Umgang mit vermeintlich inkriminierten Begriffen: Von Indianer schreibt er, nicht von Native Americans, weil er an jenem Wort nichts Abwertendes entdeckt.

Seine Darstellung der "Unterwerfung der Welt" durch Europa weigert sich, die Welt in Dunkel (die Kolonisatoren) und Hell (die Kolonisierten) aufzuteilen. Den Begriff der "Entwicklungsdifferenz" zwischen Europa und der übrigen Welt (mit Abstufungen etwa gegenüber China oder muslimischen Reichen) bringt er gleich zu Beginn ins Spiel – wohl wissend, dass er sich des Rassismus verdächtigt macht. Doch für Reinhard ist das die wertfreie Beschreibung eines historischen Umstands, aus dem sich als Folge eben die europäische Expansion ergeben habe.

Dass diese Expansion Millionen von Indianern, Afrikanern, Aborigines oder Malaien das Leben gekostet hat, thematisiert Reinhard immer wieder; die Sklaverei nimmt breiten Raum ein, die Zwangsarbeit und die brutale Ausbeutung von Land und Leuten. Die Spanier aber beispielsweise haben sich, um Bergwerke in den Anden auszubeuten, an Praktiken der Inka im Umgang mit Arbeitskräften orientiert. Denn schon deren Herrschaft basierte auf gewalttätiger Unterdrückung anderer Völker. Eben deshalb fanden die europäischen Kolonisatoren stets Verbündete in den von ihnen zu erobernden Ländern. So tun heutige Historiker gut daran, das Handeln der Opfer und das der Kolonialherren nebeneinander zu sehen. Reinhards Buch liefert dazu viele Ansätze. Zumal er in manchen Kapiteln – wie dem zu Portugals Handelsbeziehungen nach Indien – zeigt, dass sich die Geschichte mitunter auch andersherum erzählen ließe.

Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Eine Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015. C.H. Beck Verlag, München 2016. 1661 Seiten, 58 Euro.

Ressort: Literatur & Vorträge

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